08 Oktober 2004

Schreibtag

Das Lesen und Redigieren meines eigenen Geschreibsels - mein Buch über die Reise nach Santiago de Compostela - hat mich doch heute tatsächlich so in Anspruch genommen, dass Poldi mal ohne mich auskommen musste. Naja, ich glaube nicht, dass er darüber besonders traurig war.
Kostprobe gefällig?

"Der Morgen des ersten Mai begann damit, dass ich meine Knie mit den Pferdebandagen aus meinem Erste-Hilfe-Koffer umwickelte, die eigentlich im Notfall für Poldis Beine vorgesehen waren. Meine Knie taten aber dermaßen weh, dass sie eine Stütze brauchten und tatsächlich konnte ich mit den Bandagen wieder etwas besser laufen.
Ich hatte noch immer keine Karte und absolut keine Lust, die zwölf Kilometer bis zu der Straße zurück zu gehen, an der ich auf der Tankstelle nach dem Weg gefragt hatte. Also liefen Poldi und ich zurück nach St-Georges-en-Couzan, ich besorgte mir in der einzigen geöffneten Boulangerie zwei Croissants und frühstückte im Laufen. Wir folgten der Straße, die mich am Vortag hierher geführt hatte, weiter bergauf und anfangs fand ich es noch spannend, ohne Karte unterwegs zu sein. Ich fühlte mich frei, hatte alle Möglichkeiten der Welt und sang vor Übermut ein umgedichtetes Lied, das ich meiner Situation angepasst hatte:

Ich war schon einmal in Cluny,
ich ging schon auf dem Jakobsweg,
lief schon durch Frankreichs Süden
mit zerschliss’nen Knien...

Ich stellte mir vor, nach Santiago weiter zu gehen nach La Coruña, einer Hafenstadt am atlantischen Ozean, nicht weit von Finisterre, und von dort aus ein Schiff zu nehmen, das uns nach Amerika bringen sollte. Amerika würde ich durchqueren von Ost nach West, dann weiter mit dem Schiff, immer weiter nach Westen. Zu Fuß durch China, durch unendliche mongolische Steppen, Russland, Polen und schließlich wieder nach Hause, aber von Osten her. Eine Weltumrundung schien mir plötzlich möglich, auch wenn ich wusste, dass es nur Spinnerei war.

Lange hielt meine gute Laune nicht an. Die Straße zog sich immer länger hin, stetig wenn auch nicht steil bergauf und es gab so gut wie keine Orte am Weg, also auch keine Schilder, die etwas Licht in die Dunkelheit der endlosen Bergwelt bringen und mir den Weg weisen konnten. Ein einziges Dorf durchquerte ich an diesem Tag, aber wegen des Maifeiertags war das office de tourisme geschlossen. Ich sah die Karte, die ich so dringend benötigt hätte, sogar im Schaufenster, unerreichbar fern wie in einer anderen Dimension und doch nur durch eine Glasscheibe getrennt.
Auch hinter diesem Dorf verbesserte sich meine Situation nicht. Ab hier gab es überhaupt keine Schilder mehr, ich wusste von meiner großen Frankreich-Karte, in die alle Großen Wanderwege eingezeichnet waren, dass die Straße irgendwann den GR 3 kreuzen würde und zwar genau auf der Grenze zum nächsten Departement . Diesen Weg hoffte ich zu erreichen, er sollte mich auf den Jakobsweg zurück bringen. Also wanderte ich weiter und weiter bergauf. Ich befand mich nun mitten im Wald und die Straße wurde immer kurviger, sodass ich immer nur bis zur nächsten Biegung sehen konnte. Bei jeder neuen Kurve hoffte ich, die Landschaft würde sich ändern, ein Straßenschild würde auftauchen oder der Wanderweg würde endlich kreuzen. Es gab keine Rastplätze, keine Bank, nicht einmal eine kleine Wiese neben der Straße, auf der ich eine Pause hätte machen können. Schließlich setzte ich mich ein paar Minuten auf das Geländer einer Brücke, mit der die Straße einen kleinen Bach überquerte, aber besonders erholsam war das nicht. Ständig musste ich aufpassen, dass Poldi sich nicht mit dem Hinterteil auf die Straße drehte und eines der wenigen Autos, die heute auf dieser unübersichtlichen Straße unterwegs waren, in einen Unfall verwickelte, denn auch ihm gefiel dieser Ort nicht, an dem es nicht zu fressen gab und einem nichts anderes übrig blieb, als immer weiter zu laufen. Rechtskurve folgte auf Linkskurve, darauf wieder eine Rechtskurve und das ganze wiederholte sich stundenlang ohne eine andere Aussicht zu bieten als endlose Koniferenwälder. War ich etwa schon an dem Wanderweg vorbei gelaufen? Das Ende der Welt schien nah.

Endlich änderte sich die Landschaft, und zwar schlagartig, als ich plötzlich die Baumgrenze erreichte. Ich war bis auf tausenddreihundert Meter Höhe gestiegen und so hoch oben wuchsen hier keine Bäume mehr. Statt dessen erwartete uns eine karge Berglandschaft, Weiden mit trockenem braunem Gras, übersäht von Tausenden wilder, leuchtend gelb blühender Narzissen. Das faszinierende Naturschauspiel dieser Blumen hatte Touristen angelockt, plötzlich sah ich überall am Straßenrand Autos parken und Menschen, meist in Begleitung von Kindern und Hunden und einem großen Sammelkorb, Blumen pflücken. Ich konnte nun die Straße besser überschauen und sah, dass ich bald einen Bergkamm erreicht haben würde. Nicht mehr lange und ein großer Parkplatz mit noch mehr Touristenautos tauchte weiter vorne am Weg in meinem Blickfeld auf, auf der anderen Straßenseite schien es ein Haus zu geben. Trotz des kühlen windigen Wetters war viel los und auch ich konnte der kleinen Gaststätte mitten in der Einsamkeit auf dem Col de Beal nicht widerstehen. Zwanzig Kilometer ohne richtige Pause an der Straße entlang waren wirklich genug, vor allem nach der gestrigen Hammertour, und so band ich Poldi an eine Bank vor dem Haus an, besorgte ihn etwas zu trinken und bestellte mir selber einen Crêpe, eine französische Spezialität bestehend aus einen dünnen Pfannekuchen mit Schokosauce, den ersten auf meiner Wanderung durch Frankreich.
Ich hatte nicht wirklich Lust, noch weiter zu gehen und drückte mich einige Zeit auf dem Gelände herum, schaute in den kleinen Laden, in dem Souvenirs verkauft wurden und las alle Infotafeln und Werbung, die an den Türen aufgehängt waren. Dabei machte ich die Entdeckung, dass die Gaststätte zugleich eine gîte war. Auf der anderen Straßenseite neben dem Parkplatz gab es sogar eingezäunte Weiden!
Ich bekam ein einfaches Zimmer für sechs Personen zugewiesen, das ich alleine bewohnte, und einen Gewürzkuchen geschenkt, man zeigte mir die Küche und schon bald wurde ich meinem Schicksal überlassen, als das Lokal schloss und die Betreiber zusammen mit dem größten Teil der Touristen motorisiert ins Tal abdampfte. Nur ein einsames Wohnmobil stand jetzt noch auf dem Parkplatz neben Poldis Weide.
Ich kochte mir ein leckeres Nudelgericht, setzte mich vor die Tür und genoss den Sonnenuntergang in den Bergen, denn die letzten Wolken hatten sich verzogen, als die Touristenschar den Ort des Geschehens verlassen hatte."

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